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Der Wald weint
Für mich war der Wald in meiner Kindheit und Jugendzeit so etwas wie eine zweite Heimat. Er war mein Zufluchtsort, meine Oase, mein Vertrauter und Tröster. Als Kind dachte ich: „So groß muss Gott sein!“ Etwas Größeres und Erhabeneres konnte ich mir nicht vorstellen.
In meiner Heimat, unserem Wohnort, waren wir umgeben von Wald, meist Mischwald.
Jeder Wald hatte seinen eigenen Geruch, seine eigene Stille und Atmosphäre, seine eigene Pflanzen- und Tierwelt. Ich wusste genau, wo es die dicksten und süßesten Beeren gab und wo ich die meisten Maikäfer von den jungen Bäumen schütteln konnte.
Ich hörte die ersten Kuckucksrufe im Frühling und konnte fast alle Vogelstimmen dem richtigen Vogel zuordnen. So manchem Käfer habe ich wieder auf die Beine geholfen, wenn er hilflos zappelnd auf dem Rücken lag. Sah ich eine Schnecke, die Gefahr lief, bei der Überquerung eines Weges zertreten zu werden, hob ich diese auf und setzte sie auf der anderen Seite des Weges wieder ab.
Ich liebte es, wenn die Sonne durch die Baumkronen schien und diese in eine goldene Kuppel verwandelten.
Als ich vor zwei Wochen anfing, meine morgendliche Runden im Wald zu laufen, sah ich das satte Grün der Laubbäume, auch der Boden unter ihnen war übersät mit grünen Pflanzen, dicht aneinandergedrängt. Beruhigt und hoffnungsfroh stellte ich für mich fest, dass die Natur doch stärker ist als der Mensch.
Mit jedem Tag im Wald bröckelte dieses Bild mehr und mehr. Ich wusste, dass irgendetwas nicht stimmte, anders war. Als Antwort hatte ich aber immer nur das satte Grün vor Augen. Als ich eines Morgens die Vogeltränke mit Wasser füllte, dachte ich mit Wehmut an den letzten Frühling, wo ich morgens noch mit Vogelgezwitscher geweckt wurde. Es war weniger geworden, aber dennoch ein Vielgesang. Im Sommer waren die Vögel eines Tages nicht mehr da. Ich war der festen Überzeugung, dass sie sich in den nahen und kühleren Wald zurück gezogen hatten.
Noch während ich diesen Gedanken nachhing wusste ich, was mich beunruhigte: Die Stille im Wald war eine ungute Stille. Auch im Wald hatte ich noch keinen Vogel singen hören, obwohl ein Bach durch den Wald fließt. Am nächsten Morgen war ich um sechs Uhr schon auf dem Trampelpfad, der am Bach entlang führt. Vielleicht waren sie hier? Aber auch am Bach war kein Leben zu erkennen, sogar die Mückenschwärme, die im ersten Sonnenlicht sich wie in einem Ball umkreisen, und die sonst leidigen Spinnennetze fehlten.
Während der nächsten Aufenthalte im Wald entdeckte ich immer mehr, das heißt, ich entdeckte, dass ich nichts entdecken konnte. Keinen Käfer, keine Schnecke, keine Eichhörnchen, keine Maus!
Heute Morgen bat ich eine Freundin mit zu kommen, vielleicht irrte ich mich ja. Wir haben auf sechs Kilometer Waldwegen keinen einzigen Käfer gesehen und auch sonst kein Lebewesen, außer Menschen, manche mit Hunden. Und keinen Vogel, weder gehört, noch gesehen. In wieweit Waldtiere noch in diesem Wald leben, weiß ich nicht. Ich habe jedenfalls kein Rascheln und kein Knacken von Ästen gehört. Auch die Spuren von Wildschweinen fehlen, nirgendwo haben wir aufgewühlte Erde entdecken können..
Das satte Grün unter den Bäumen, das sich wie ein riesiger Teppich ausbreitet, habe ich mir heute näher angesehen. Es sind unzählige Triebe, die aus dem Samen der Bäume wachsen können, weil keine Tiere mehr da sind für die sie Nahrung wären! Sie werden den großen Bäumen die letzten Kraftreserven entziehen.
Das alles hat mich sehr betroffen und traurig gemacht. Und wenn ich mir vorstelle, dass es wahrscheinlich noch mehr solcher Wälder gibt, sehe ich in nicht allzu ferner Zukunft auch unsere Wälder schwinden. Das Klima wird sich rapide ändern.
Das satte Grün der Wälder täuscht! Sie sind krank! Die Tiere, die zur Gesunderhaltung und somit Stärkung ihrer Wurzeln beitragen, sind nicht mehr.
Das ist nur ein kleines Beispiel für die Folgen der Ausbeutung der Erde und der Menschen durch die Macht der Mächtigen!
Die Menschen müssen wach gerüttelt werden. Es ist jetzt schon fast zu spät.
Ratlos.
Laetitia